Cantine Nervi
Der Weinsuchende wird hier von einer hügelig-bergigen Landschaft empfangen. Im Winter heben sich die weißen Bergrücken der piemontesischen Alpen mit dem zweithöchsten Bergmassiv Europas deutlich vor dem hellen Blau des Himmels ab und scheinen den Weinbergen noch näher zu rücken. Sie sind es, die für den feinen Schnee sorgen, der die Weinreben in dieser Zeit bedeckt, gleichzeitig aber die Weinberge vor den kalten Winden schützt. Im Sommer wie im Winter, die Gegend um Gattinara wirkt wie eine Märchenlandschaft mit ihrem stetigen Auf und Ab, dem ruhigen Fluss Sesia und den majestätischen Bergrücken des Monte Rosa im Hintergrund. Die beiden quirligen Metropolen Mailand und Turin, die circa 80 bis 90 Kilometer in südöstlicher beziehungsweise südwestlicher Richtung entfernt liegen, sind weit genug weg, so dass die Beschaulichkeit der Reblandschaft von keinem Tagestourismus gestört wird. Hier ist die Luft noch ein bisschen reiner und das Leben ein wenig geruhsamer. Das Weingut Nervi ist stolz darauf, das älteste seiner Art in der Region zu sein. Die Tradition wird dementsprechend großgeschrieben, und das, obwohl die Besitzverhältnisse auf dem Weingut in den letzten Jahren sich häufiger verändert haben. Die Qualität wird hier produzierten Weine tat dies keinen Abbruch – zumal der heutige Besitzer kein geringer als der legendäre Roberto Conterno ist – legender wegen seiner konservativen Weinverfahren, die seine Barolos zu den gefragtesten unter den Weinliebhabern machen. Man darf also schon jetzt genießen und auf die neusten Kreationen gespannt sein.
Die Nebbiolo-Rebsorte zählt zu den Klassikern unter autochthonen Weingewächsen, da sie ausschließlich in Piemont auf die ihr genehmes Mikroklima und entsprechende Bodenverhältnisse stößt. Eine kleine Ausnahme davon bildet die Valtellina-Zone. Aus den Nebbiolo-Trauben werden die berühmtesten Weine Italiens hergestellt: Barolo und Barbaresco. Zu ihren Hauptmerkmalen gehören ungewöhnliche Langlebigkeit und sich steigende Komplexität. Doch Piemont ist nicht gleich Piemont. Während die berühmt gewordenen Regionen der Langhe um die kleine Ortschaft Barolo nahe bei Turin liegen, und sich durch sanfte Hügellandschaft mit wenigen Steigungen auszeichnen, ist die Gegend um Gattinara durch ausgewachsene Hügelgefälle und Berge gekennzeichnet. In diesem gleichfalls als DOCG anerkannten Gebiet gedeihen diejenigen Nebbiolo-Trauben, die als „Nebbioli des Nordens“ bezeichnet werden. Die Nebbiolo-Traube heißt hier „Spanna“ und stellt einen anderen Klon dar, aus dem naturgemäß auch andere Weine gekeltert werden.
Dort, wo die Cantina Nervi ihre Weinreben wachsen lässt, haben bereits Römer ab dem 2. Jh. n. Chr. den Rebanbau kultiviert und Weine gekeltert, die während der Renaissance und bis zum 19. Jahrhundert hinein von den europäischen Königshäusern besonders geschätzt wurden. Allmählich ist die legendäre Fama dieses Gebietes auf die in der Langhe liegenden Weingüter übergegangen und Gattinara ist in Vergessenheit geraten. In aller Stille produzieren jedoch Weinkellereien, allen voran die Cantina Nervi, weiterhin herausragende Nebbiolo-Weine, die ihrer Wiederentdeckung harren. Knappe 30 Hektar Weinberge gehören zu dem ältesten ununterbrochen praktizierenden Weingut und sind im glücklichen Besitz einer spektakulären Lage, dem Weinberg „Vigneto Molsino“, der wie ein Amphitheater funktioniert und einen grandiosen Blick auf den schneebedeckten Monte Rosa eröffnet. Auf seinen Flanken wachsen hochwertige Nebbiolos, die zu den Flaggschiff-Crus der Cantina Nervi verarbeitet werden.
Zum Reichtum an hochqualitativen Weinen der Cantina Nervi tragen neben der peniblen Arbeit im Weinberg und der herausragenden Kenntnissen des Önologen Enrico Fileppo vor allem die sehr speziellen Lagen und ihre einzigartige Bodenbeschaffenheit. Die Cantina kann sich glücklich schätzen, an den besten Cru-Lagen der gesamten Appellation zu partizipieren, namentlich an „Molsino“ und „Valferana“. Weitere Top-Lagen sind „Garavoglie“ und „Cassace“. Sie alle liegen zwischen 300 und 420 m. ü. M., sind nach Süden bzw. Südwesten orientiert und ausschließlich mit Nebbiolo-Klonen im Alter zwischen 40 und 10 Jahren bestockt. Besonders interessant ist hier die Bodenbeschaffenheit des Terroirs, die der typischen Gemengelage aus Kalk und Kreide, die der Langhe eigen ist, entbehrt. Hier herrscht der Porphyr vor, ein verwittertes Vulkangestein, das von 280 Millionen Jahren durch einen nur 130 Kilometer von Gattinara entfernten Vulkanausbruch entstand. Die Böden sind sauer und mit Lehmadern durchzogen. Ideal für den alten Nebbiolo-Klon „Spanna“, deren Weine sich von denen der Langhe deutlich durch ihre mineralischen Noten abheben.
Die Nervi-Lagen erstrecken sich zu Füssen des Monte Rosa, des zweithöchsten Bergmassivs Europas, der sie vor kalten und starken Winden schützt und ein besonderes Mikroklima schafft, dass im Sommer für gute Feuchtigkeit und ausgeglichene Regenmenge sorgt, im Winter hingegen den Frost von den Reben abhält.
Das älteste Weingut: Die Cantina Nervi
Die Cantina Nervi gilt als das älteste Weingut der Region, das ununterbrochen als Weinkellerei bewirtschaftet wird. Offizielles Gründungsdatum ist das Jahr 1906, doch die Weinberge selbst sind römischen Ursprungs, deren Namen kontinuierlich bis ins 19. Jahrhundert als beste Weinlagen überliefert sind. Der erste genannte Weingutsbesitzer war Luigi Nervi und seine Familie, die bis ins nächste Millennium hinein die Geschicke des Weinguts in Familienregie vieler Generationen lenkte. In den letzten Jahrzehnten ihrer Führungszeit verfiel das Weingut nach und nach bis es 2011 von einer aus Norwegen kommende Investorengruppe – den Familien Astrup, Moestue, Wicklund und Skjelbred – mit dem Weinexperten und Barolo-Kenner Erling Astrup an der Spitze aufgekauft wurde. Sie restaurierten die heruntergekommenen Weinberge, erneuerten den Weinkeller mit modernem Equipment, und es dauerte nicht lange, bis das in Vergessenheit geratene Gut wieder ein in Alto Piemonte beachteter Name wurde. Vielleicht etwas überraschend entschied das norwegische Team und allen voran Erling Astrup das Weingut wieder zu verkaufen. Als Begründung wurde die große Entfernung angegeben, die es nicht möglich macht, die Produktion entsprechend engmaschig zu steuern, wie es die angestrebten Qualitäten eigentlich erfordern würden. Im Jahr 2018 konnte Roberto Conterno, kein Unbekannter auf dem Weinparkett und ein enger Freund Astrups, darüber hinaus ein großer Liebhaber der Barolo/ Barbera-Weine, das Anwesen aufkaufen und es im Sinne der hiesigen Tradition kenntnisreich weiterführen. Die „gute Seele“ des Weinkellers ist Enrico Fileppo, der langjährige Önologe der Cantina Nervi, der die herausragende Qualität der Weine trotz wechselnder Führungsverhältnisse aufrechterhalten konnte. Doch auch der neue Besitzer und Winzer kennt die Cantina aus seinen zahlreichen früheren Besuchen und ist mit den hiesigen Vinifizierungsprozessen bestens vertraut. Roberto Conterno ist alles andere als ein Unbekannter auf dem Weinparkett. Weinkenner werden ihn als einen Traditionalisten der Barbera-Weine kennen und zu schätzen wissen. Auf seinem Weingut Giacomo Conterno entstehen legendäre Barberas und Barolos in traditionellen Botti – ohne Filtration, ohne schnelle Nachhilfe, ohne Barrique – in sensationell langer, 35-tägiger Maischegärung. Sie gehören zu den Top-5 der Weine aus dem Piemont, sind darüber hinaus äußerst rar und dementsprechend teuer. Ein solcher Mann der Weine weiß die alten Böden und Gewächse der Cantina Nervi zu schätzen. Roberto Conterno hat vor, sowohl in die Qualität als auch in den Vertrieb der Nervi-Weine zu investieren. Man kann also gespannt und aufmerksam sein, auf das, was demnächst aus dem Weinkeller Nervi vorgestellt wird. Günstig – so wie bisher – werden diese neuen Kreationen jedoch sicherlich nicht sein.
Ãœberaus interessante Weinpalette der alten Cantina Nervi
Die Flaggschiffe der Cantina Nervi sind die Gattinara-Lagenweine, jene Nebbiolos aus der ältesten Anbauregion für diese Rebsorte. Die ganz besonderen Weine aus der Gattinara-Appellation kommen von der Valferana- und der Molsino-Lage der Cantina Nervi. Diese Weine reifen mindestens drei Jahre in großen Eichenfässern und gelangen erst im vierten Jahr in den Verkauf. Diese Weine haben eine Lebensfähigkeit von über 30 Jahren, was nicht zuletzt an ihren starken Tanninen liegt. Schon zu Vinifizierung des ‚einfachsten‘ unter den Gattinara-Weinen – und was heißt hier schon „einfach“ –, dem schlicht benannten Nervi Gattinara, gelangen bereits handausgesuchte beste Trauben aus den Top-Lagen „Casacce“ und „Garavoglie“, und in Abhängigkeit vom Jahrgang auch aus „Molsino“ und „Valferana“.
Die nach den gleichnamigen Spitzenlagen benannten Cru-Weine sind Nevi Valferana Gattinara und Nevi Molsino Gattinara. Die Cantina Nervi stellt sie nur her, wenn das Weinjahr besonders gut ausgefallen ist und große Jahrgänge ermöglicht. Sie waren übrigens schon im 19. Jahrhundert von legendären Ruf. Valferana-Weine lassen sich bis ins 13. Jahrhundert zurückverfolgen, belegt durch ein Dokument eines gewissen Rufinus Musso, der seine Rebstöcke in Valferana 1231 verkauft und damit die Mitgift seine Schwester Delia bezahlt. Valferana könnte man als einen Wein für Fortgeschrittene und Geduldige, denn er braucht viele Jahre in der Flasche, um seine volle Kraft zu entfalten – andernfalls wird er ungeduldige Weintrinker sehr schnell enttäuschen. Sein Markenzeichen ist sein mineralisches Bouquet voller vulkanisch-steiniger Anklänge. Dagegen ist der „Nervi Molsino“ ein fruchtiger, samtiger Wein voller Kirschen und Pflaumen, der gleichzeitig überraschende Noten von Vanille und Balsamico bereithält. Die große Überraschung hier ist die Qualität der sehr präsenten Gerbstoffe, die eine eindrückliche Komplexität schafft. „Nervi Molsino“ ist für das Weinreview von Eric Pfanner in der New York Times (2013) der beste Wein, den sich die Cantina Nervi gewissermaßen „bis zum Schluss aufgehoben [hat]“.
Zu erwähnen sind darüber hinaus die Weine Nervi Colline Novaresi – ein Nebbiolo, der ein Jahr im Eichenfass und ein Jahr im Zementtank reift – sowie die günstigeren, nicht minder guten Klassiker Nervi Rosa und Nervi Bianca. Der Nervi Bianca zeichnet sich durch große mineralische Frische und wird aus den Trauben der Lage „Erbaluce Caluso“ in der Appellation Erbaluce DOCG vinifiziert, während der Nervi Rosa aus 10% sogenannten „Uva Rara“, seltenen Traubensorten und 90% Nebbiolo besteht und nicht minder spannend ausfällt.
Wer Bubbles mag, kann sich auf den einzigen und erst seit neustem auf dem Markt gebrachten Nervi-Schaumwein „Jefferson“ freuen. Dieser nach klassischer Methode aus weißen Nebbiolo-Trauben gemachte Spumante ist nach Thomas Jefferson benannt, dem dritten USA-Präsidenten, der ein großer Kenner und Liebhaber der italienischen Weine war. Auf seiner Italienreise 1787 besuchte er handverlesene Weingüter und kostete die damals interessantesten Weine. Darunter auch den „Gattinara“-Wein dieser Region – und wurde sein großer Anhänger. Es heißt, er habe während seiner Präsidentschaft eines der US-amerikanischen Kriegsschiffe mit zwei Fässern von diesem Wein beladen lassen.
Nervi
Gründungsjahr: 1906
Eigentümer: Roberto Conterno
Önologen: Enrico Fileppo und Roberto Conterno
Jahresproduktion: ca. 100.000 Flaschen
Rebfläche: 23 Hektar im konventionellen Anbau
Notabene: Besuchen Sie die Cantina Nervi nur nach Voranmeldung. Nur so ist ihnen eine ausführliche Führung auch durch den Weinberg garantiert. So oder so – einmal vor Ort sollten Sie den historischen Weinkeller der Cantina gemeinsam mit dem Weinmacher Enrico Fileppo aufsuchen und sich die friedlich ruhenden Weine mit Anekdoten gespickt erklären lassen.